Zum Beispiel...
 
Vasha Chachkhiani
Vasha Chachkhiani, geboren 1985 in Tbilisi, brach mit 18 sein Mathematik- und Informatikstudium ab und wechselte an die Kunstakademie. Schockiert über den antiquierten und autoritären Unterrichtsprogramme gründete er mit 10 Kommilitonen das Studio for Contemporary Art - in der Akademie. Mit einer ganzen Reihe von selbstorganisierten Ausstellungen im Stadtraum erlangten sie solch eine Präsenz, dass dem Rektor nichts anderes übrig blieb, als sie vier Jahre lang gewähren zu lassen - selbst nachdem sie Lehrkräften jeglichen Zutritt zu ihrem Institut verwehrt hatten.
Chachkhiani nennt seine Arbeitsweise To prompt conflict in the people's mind in a relation to the established order given by the systems. Er arbeitet mit interventiven Installationen, mit Performance, mit Film. Seine Arbeiten sind volkstümlich, in dem Sinne, dass er versucht, mit einfachen Mitteln möglichst viele Menschen zu adressieren. Er legt seinen Finger in offene Wunden. In einem Video bekreuzigt sich eine Gruppe in einem Autobus (in Georgien ist das beim Passieren einer Kirche zur hysterischen Mode geworden), dabei legen sie ein immer höheres Tempo zu, was zu einer surrealen Raserei führt, die an die Trauerzug-Episode in René Clairs Film Entr'acte von 1929 erinnert.
Die Diplomarbeit (in Fine Arts) seiner Künstlergruppe LOTT war 2008 die neunminütige Performance Wet Circle: im Kreis sitzend spuckten sie sich reihum ins Gesicht. Professor Georgi Kevle, der sie dabei betreute, wurde bald danach entlassen, ihr Studio geschlossen.
Eine von Chachkhianis Installationen hiess Close-Up, Nahaufnahme. Dabei vernagelte er den Zugang zu Ausstellungsräumen mit Brettern. Bei seinem einjährigen Aufenthalt an der Gerrit Rietveld Academie verschloss er so die Rundgangspräsentation. Mitstudenten, Lehrer und Administration fanden das überhaupt nicht lustig und rissen die Barrikade ein. So wurde die Installation Close-Up zur Performance Close-Up.
Heute lebt und arbeitet Vasha Chachkhiani in Berlin, Gregor Schneider hat ihn in seiner Klasse aufgenommen.

Anna K.E.
Anna K.E., 1986 in Tbilissi geboren, wurde bereits 16jährig in die Klasse von Professor Roob an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart aufgenommen; 2004 wechselte sie nach Düsseldorf, wo sie im Sommer 2010 bei Georg Herold und Christopher Williams ihren Abschluss macht.
Anna K.E.s Familie mag exemplarisch für ein bürgerliches Tbilisi stehen, in dem die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur immer wichtiger Bestandteil des Alltags war und Kinder in einem kreativen Umfeld aufwuchsen; so war ihre Großmutter Lia Kapanadze eine berühmte Filmschauspielerin, die Malerin Keti Kapanadze ist ihre Mutter, der Künstler Gia Edzgveradze ihr Vater.
Anna K.E. ist Bildhauerin. In einem wilden Springen von Material zu Material baut sie Skulpturen zwischen emotionaler Sinnlichkeit und souveräner Nüchternheit. Im Ergebnis können das zusammengeschraubte, begehbare Holzgerüste werden oder auch reliefartige Wandarbeiten aus Filz, Metall, Papier. Immer entwirft sie dabei unmögliche Räume. In ihrem Atelier arbeitet sie an Bruchstücken, die sie dann am jeweiligen Ausstellungsort zusammenbaut. Natürlich zeichnet, malt und collagiert sie auch; ihre Bilder sind meist abstrakt geometrisch, wirken oft wie Entwürfe für zukünftige kühne Plastiken.
Gemeinsam mit ihrem Freund Florian Meisenberg betreibt sie Gallery Hasen, eine fiktive Galerie aus New York. Ein performatives Projekt zwischen Fassbarkeit und Utopie, unter dem sie Ausstellungskonzepte entwickeln, jährlich einen Kunstpreis vergeben und auch kuratorisch tätig sind.

David Meskhi
David Meskhi wurde 1979 in Tbilisi geboren. Nach einem Studium der Geografie mit Diplom in Hydro-Ökologie schrieb er sich an der Shota Rustaveli Theater- und Film- Universität in der Fakultät für Film ein, bis der Bereich Fotografie eröffnet wurde, wo er 2005 einen Abschluss als Fotojournalist machte.
Als Student jobbte Meskhi in dem illegalen (als Kunstraum getarnten) Club Lift und begann dabei, die Partygäste zu fotografieren; sein nächstes Sujet waren Skater (von denen es in Tbilisi vielleicht ein Dutzend gibt); dann Nacktbadende, melancholische Reservisten und so weiter: Kids. Freuden der Jugend.
Seine Bilder sind wie gefrorene Filme. Keine Stills, denn sie gehen weiter, sie erzählen Geschichten, es sind kleine Essays. Man weiss, dass es sich um den Schuss durch ein Objektiv handelt, aber bei vielen Fotografien hat man das Gefühl, dass Meskhi eins geworden ist mit seinem Subjekt. Zumindest spürt man ein liebevolles Auge.
Sein fotografischer Blick traf sofort einen Nerv, und so veröffentlichte er in den ganzen georgischen Kunst/Mode/Lifestyle-Magazinen, aber auch im Berliner Lodown, dem Pariser Tell Mum Everything Is OK oder im Outlook Magazine aus Shanghai. Parallel stellte er regelmässig in Kunsträumen aus; dass man dabei zwischen freien und angewandten Werken keine Grenze zu ziehen braucht, haben wir ja von Wolfgang Tillmans gelernt.
Im Herbst 2010 werden seine Arbeiten in einer Einzelausstellung in der Berliner Galerie Micky Schubert zu sehen sein.

Gio Sumbadze
Gio Sumbadze, Jahrgang 1976, studierte an der Kunstakademie Angewandte Grafik. 1993 hatte er seine erste Ausstellung, 1994 war er zum ersten Mal Mitglied einer Künstlergruppe. Ein Tbiliser Phänomen: der vom Kunstmarkt so geliebte Einzelkämpfer ist hier die Ausnahme. Natürlich sind auch die georgischen Künstler Individuen; aber sie finden sich doch immer wieder zu Gruppen zusammen. So war/ist Sumbadze Teil von goslab, shizlab, Inf.Act, Lift oder bolder.
Gio Sumbadze ist ein Weltvermesser. Seine Arbeiten haben etwas Archivarisches, Grenzen zwischen Dokumentation und Eingriff verschwimmen. Er arbeitet mit Fotografie, Film, medialen Installationen. Seine Werke sind seriell, in einer minimalen, grafischen Bildsprache. In einem seiner Videos verfolgt die Kamera Stromkabel; in einem anderen Video schneidet er Architekturaufnahmen so, dass sie einen musikalischen Rhythmus entwickeln; in wieder einem anderen reiht er in ruhigen Einstellungen Portraits georgischer Jugendlicher aneinander - alle Videos könnten ewig weitergehen, wäre sie als loop gedacht, es sind aber Kurzfilme, die man von Anfang bis Ende schauen soll. In einer fotografischen Serie zeigt er nächtliche Aufnahmen von Tankstellen; damit wurde er mit Fischli & Weiss ausgestellt. Ähnlich wie sie in ihren Arbeiten immer über die Schweiz sprechen, selbst wenn sie in Mexiko fotografieren, so sind seine, uns vertraut scheinenden Motive in Tbilisi verortet.
Wenn Sumbadzes Installationen und Interventionen sich an Medienkunst annähern, sind sie von überraschender Stärke und Frische, vermutlich genau deshalb, weil dieser Bereich während seiner akademischen Ausbildung komplett ausgespart wurde.
Seine Arbeiten wurden in Sonsbeek gezeigt, im Cobramuseum Amsterdam, in Wien, Berlin oder Moskau. Im entstehenden CCA soll er die Videoklasse leiten.

<<<

Tbilisi - Terrain vague

Text: Andreas Reihse

Wer in den Morgenstunden auf dem Flughafen von Tbilisi landet und dann in die 1.500 Jahre alte Stadt hineinfährt, wundert sich, dass diese noch nicht wach ist. Georgien wird meist mit irgendwo-im-Osten, in-Asien-gelegen assoziiert, wenn man aber den Kaukasus als Grenze zu Asien wählt, dann sind wir in Europa. Tbilisi liegt auf demselben Breitengrad wie Rom oder Barcelona, das Klima ist subtropisch, im Sommer hat es meist über 40 Grad. Das Lebensgefühl ist also ein Mediterranes: der Tag beginnt spät am Morgen und endet tief in der Nacht.

Tbilisi ist eine uralte Handels- und Kulturstadt. Bis in die Sowjetunion hinein wurde sie getragen von einem multiethnischen, gebildeten, aufgeschlossenen Bürgertum. Die Hauptstadt Georgiens stand immer für Gastfreundschaft und Toleranz. Am Platz Meidani stehen Moschee, Synagoge, armenisch- und georgisch orthodoxe Kirche nebeneinander. Heute jedoch dringt der georgisch orthodoxe Glaube in immer mehr Lebensbereiche ein, wird aggressiver gegenüber Andersgläubigen und Atheisten. Und mit der schwieriger werdenden wirtschaftlichen Lage wird die Gesellschaft nationalistischer. Das geht Hand in Hand mit dem scharfen, neokonservativen Ton einer jungen politischen Elite, die im Gefolge von Saakarschwili aufstieg.

Im November 2003 war in der sogenannten Rosenrevolution der georgische Präsident Schewardnadze aus dem Amt gedrängt worden. Seit Januar 2004 regiert Michail Saakarschwili das Land. Er begann massiv gegen Korruption, Schattenwirtschaft und mafiöse Strukturen vorzugehen, holte mit einer Unternehmer-freundlichen Gesetzgebung ausländische Investoren ins Land und er schaffte es, den Diktatoren Aslan Abaschidze aus der autonomen georgischen Republik Adjarien zu vertreiben. Im November 2007 kam es zu ersten Massenprotesten gegen Saakarschwili. Seine Politik bekam immer autoritärere Züge, der wirtschaftliche Aufschwung kam nicht bei der Bevölkerung an, Vorwürfe, dass er und seine Gefolgsleute sich bereichern, wurden lauter. Saakarschwili ist eigentlich ein Typ Politiker, den die Georgier lieben: er ist laut, emotional, populistisch, nutzt nationale Symbole und schert sich wenig um ein diplomatisches Auftreten. Im Sommer 2008 beging er den fatalen Fehler auf russische Dauerprovokationen mit einem Militärschlag zu reagieren: er wollte die georgische Einheit gewaltsam erreichen, und marschierte in Südossetien ein - neben Abchasien eines der beiden autonomen Gebiete Georgiens (völkerrechtlich, de fakto von Russland protegierte Diktaturen). Mit den bekannten Folgen. Nach einer kurzen Pause gingen die Proteste gegen Saakarschwili um so vehementer weiter. Politologen bezeichnen Georgien als defekte Demokratie.

Das vorherrschende marktwirtschaftlich-liberalistische Denken manifestiert sich in großen Bauprojekten, wie dem neuen Präsidentenpalast in seinem pompösen Neo-Neoklassizistischen Stil oder den geplanten 130 Meter hohen Axis Towers, ein in Zwillingstürmen untergebrachtes Businesszentrum, das - nach dem Willen der Stadt - zum neuen Wahrzeichen von Tbilisi werden soll; oder in einer destruktiven Auffassung von Denkmalpflege, die beispielsweise die ortstypischen verandaverzierten Stadthäuser aus dem 19. Jahrhundert renoviert, ihnen dann aber einen pastellfarben Anstrich - hallo Disneyland! - verpasst; das architektonisch bedeutende Iveria, ein 18geschössiger Hotelbau mit umlaufenden Balkonen aus dem Jahr 1969, wurde an die Rezidor Hotel Group verkauft, die den Kern stehen lies und eine 08/15 Glasfassade darüber stülpte; der Fernsehturm, eine stativartige dreibeinige Stahlkonstruktion von 1972 wird seit 2005 nachts von einem kitschigen Lichtspiel illuminiert (während im Winter ganze Stadtteile ohne Stromversorgung waren); das weltberühmte 1975 von Giorgi Chakhava erstellte Verkehrsministerium, mit seinen gegeneinander verschobenen, aufeinander geschichteten Keilen, gehört heute der Bank of Georgia, der angekündigte Umbau lässt nichts Gutes ahnen. Und wenn die öffentliche Hand schon raubbaut, wie kann man erwarten, dass der Privatmann dem nachsteht: 1991, nach dem Bürgerkrieg, war das Iveria Kriegsflüchtlingen als Notunterkunft zur Verfügung gestellt worden; das Haus wurde im Lauf der Jahre zum auffallendsten Beispiel einer in ganz Tbilisi verbreiteten Art von Guerilla-Architektur: wird die Wohnung zu eng, baut man an: aus Balkonen werden Zimmer; statisch am abenteuerlichsten aber sind die Durchbrüche durch Aussenwände, wo dann schonmal auf der fünften Etage ein neuer Raum drangehängt wird - in wochenlanger Heimarbeit versteht sich.

In bestem Zustand sind die renommierten Theater unter den mehr als dreißig Bühnen der Stadt. Dazu gehören so weltberühmte wie die Philharmonie oder das Rustaveli-Theater mit dem Chefdramaturgen Robert Sturua und dem Komponisten Giya Khancheli. Auch kann die Stadt auf eine bis in die 20er Jahre zurückreichende Filmtradition und auf bedeutende Produktionen von Regisseuren wie Otar Iosseliani, Giorgi Danelia, Giorgi und Eldar Schengelaia oder Sergei Paradschanow zurückblicken. Der wirtschaftliche Niedergang nach dem Ende der Sowjetunion und der Bürgerkrieg führten dazu, dass die Filmindustrie lange vor sich hin dümpelte, aber in den letzten Jahren gibt es mit jungen Regisseuren wie Géla Babluani, Giorgi Ovashvili oder Levan Koguashvili auch international wieder einen Aufwärtstrend.

So viele Theater, so viele Museen gibt es; in den beiden größten findet man die beeindruckendsten Sammlungen. Das Simon Dschanaschia Museum zeigt in einer klassischen, ruhigen Präsentation die naturwissenschaftliche und ethnografische Geschichte des Kaukasus. Ein extrem angenehmes Museum, und in seiner Schlichtheit äusserst inspirierend: Glasvitrinen, Schautafeln, mit Stoff bezogene Wände - weit weg von modischen Displays und Effekten, wie man sie aus westeuropäischen Naturkundemuseen kennt. Im Schalma Amiranaschwili Kunstmuseum sind die Goldschätze der georgischen Könige zu sehen und die Sammlung georgischer Malerei vom 18. bis zum 20. Jahrhundert - darunter als größten Schatz die Gemälde von Niko Pirosmani. Pirosmani war ein autodidaktischer Maler, der in den damaligen akademischen Künstlerkreisen in Tbilisi keine Anerkennung fand. Seine Menschen- und Tierportraits sind eindringlich, seine Sujet/Landschaftsmalereien erinnern an Theaterbühnen; zu seinen Stil - Farbwahl, Bildaufbau, Perspektive - fand er in der Auseinandersetzung mit der Ikonenmalerei. Eine Eigenart seiner Gemälde ist das tiefe Schwarz, das von seiner Technik, auf schwarzgefärbter Wachsleinwand zu malen, herrührt. Ein paar Jahre vor seinem Lebensende (er starb 1918 an Unterernährung und Leberversagen) war er von den russischen Futuristen entdeckt worden; seit seinem Ableben erlebt er regelmässig Renaissancen, so Ende der 1960er Jahre mit Ausstellungen in Wien, Kiew, in Paris im Louvre; Mitte der 1980er - beispielsweise in einer großen Ausstellung in Zürich und Santiago de Compostela, wo er Künstlern wie Fritsch, Gober, Hirst oder Sherman gegenübergestellt wurde; oder 2008 in Istanbul und Vilnius.

Was es in Tbilisi nicht gibt, ist eine Sammlung zeitgenössischer Kunst: Die Kunstgeschichte in den Museen endet mehr oder weniger mit der klassischen Moderne. Kuratoren fehlen und natürlich auch Gelder - so ist auch die prachtvolle, von Albert Salzmann Ende des 19. Jahrhunderts gebaute Nationalgalerie seit Jahren geschlossen. Oder aber die Kulturgelder fließen in Renommierprojekte; im besten Falle in die Teilnahme Georgiens an der Venedig-Biennale, im schlechtesten in nationalistische Denkmäler.

In einem weiteren musealen Prachtbau ist die Staatliche Akademie der Künste untergebracht. Geht man die Liste der Fakultäten durch, so muss man eher an ein angewandtes Hochschulstudium denken als an freie Kunst: Media-Art, Design, Architektur, Restauration/Kunstgeschichte neben Fine Arts. Inhaltlich und vom restriktiven Unterrichtsstil her hat sich in den letzten 88 Jahren kaum etwas geändert. Der Stundenplan ist strikt, die Studenten lernen die Techniken der Malerei, Skulptur oder Zeichnung.

Das ist das einzige Moment, das die Abgänger der Akademie eint - hier die Tbiliser Maler mit ihrer kitschigen Dekorativkunst, die in jeder kommerziellen Galerie hängt, dort die junge Avantgarde der Stadt und die Handvoll international bekannter georgischer Künstler - handwerklich sind alle perfekt ausgebildet.

Nach dem Ende der Sowjetunion, 1991, hat eine ganze Generation von Künstlern im Ausland studiert, und viele sind auch in Moskau, in New York oder in Europa geblieben. Die, die zurückgekommen sind, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, die im besten Fall etwas mit ihrer Ausbildung zu tun haben: Theaterkulissen malen, das Setdesign für einen Film bauen, ein privater Porträtauftrag, … Kaum jemand hat eine eigene Wohnung, und meistens leben mehrere Generationen unter einem Dach. Die meisten Künstler müssen ums Überleben kämpfen. Bis vor ein paar Jahren war es noch einfacher, mittlerweile aber ist die ganze Gesellschaft privatisiert, liberalisiert, vermarktwirtschaftlicht. Und wo es vor 10 Jahren noch Platz für Off-Räume oder spontan organisierte Parties gab, da ist das Nachtleben jetzt fest in organisierter Hand. Man geht vielleicht mal Kaffeetrinken oder in ein Restaurant, sonst trifft man sich eher zuhause. Club- oder Konzertbesuche können sich nur die Kinder der neureichen Oberschicht leisten. Marschrutkas, die Kleinbusse, sind so gut wie verschwunden, die Lada-Taxis werden von neuen Toyotamodellen ersetzt. Die kleinen Buden und Läden mussten Supermarktketten weichen. Es gibt auch hier keinen dritten Weg zwischen realexistierendem Sozialismus und Kapitalismus.

Für die die jungen Künstler ist l'art pour l'art kein Thema. Sie versuchen Antworten zu finden auf das Leben in einem postfeudalen oppressiven System - unter Staat, größtenteils regierungskonformem Fernsehen und orthodoxer Kirche. Daraus entstehen Projekte, die sich mit der Situation in ihrem Land auseinandersetzen - mit der Militarisierung der Gesellschaft, den Flüchtlingslagern, der Zerstörung von öffentlichem Stadtraum, die Flucht immer größer werdender Gesellschaftsschichten in die Religion, oder den totalitären Strukturen an der Kunstakademie. Ihre Arbeiten haben oft einen dokumentarischen Anteil, natürlich gibt es auch Malerei, aber hauptsächlich wird mit raumgreifenden Installationen, Interventionen, Fotografie, Film, Performance oder den neuen Medien gearbeitet. Alle jungen Künstler arbeiten auch in Gruppen zusammen. Ein Stück Normalität, alle sind sie in Großfamilien aufgewachsen, und natürlich hat das auch damit zu tun, dass man auf mehrere Schultern verteilt mehr erreichen kann. Da es kaum öffentliche Räume für Kunst gibt, zeigen sie ihre Arbeiten innerhalb von selbstorganisierten Events an wechselnden Orten oder im privaten Bereich, in Küchen und Ateliers. Sponsoren sind schwer zu finden. So kann man aber auch experimentieren, stärker werden. Das Internet spielt dabei natürlich eine große Rolle - sei es zur Vernetzung oder um Projekte direkt im Netz zu lancieren oder zu verbreiten. Und natürlich ist es auch die wichtigste Quelle für Informationen aus der internationalen Kunstwelt. Kunstkataloge oder theoretische Werke, sofern sie überhaupt angeboten werden, kann sich kaum einer leisten.

Es gibt auch keinen Kunstmarkt in Tbilisi. Schon gar nicht für zeitgenössische Kunst. Das bringt auf der einen Seite eine enorme Freiheit, auf der anderen aber keine Möglichkeit, von seiner Arbeit zu leben. Vielleicht noch schlimmer ist der fehlende Diskurs. Die Galerien sind bessere Souvenirgeschäfte, und ähnlich zu den um die Jahrtausendwende auftauchenden Cafés mit Buchladen, gibt es nun auch sogenannte Art-Cafés. Fast alle Räume, die eine etwas experimentellere Programmatik hatten, mussten aus ökonomischen Gründen schließen.

Eine Ausnahme ist Karvasla, eine ehemaligen Karawanserei, die das historische Stadtmuseum beherbergt; ein etablierter, subventionierter Ort natürlich, dessen obere Etage aber regelmäßig für Wechselausstellungen zur Verfügung stand - das reichte von der futuristischen Malereischau Georgian Modernism 1910 - 1930 bis zur Ausstellung Appendix, wo beispielsweise Filme von Harun Farocki auf eine Installation von Gio Sumbadze trafen. Bis 2006 war Karvasla auch Heimstatt für MAF - Media Art Farm. Dann musste das Institut einer von Präsident Saakaschwili zur Chefsache erklärten Ausstellung über die orthodoxe georgische Kirche weichen.

MAF, im Jahr 2000 gegründet, stellte moderne Computerarbeitsplätze und eine Bibliothek der zeitgenössischen Kunst zur Verfügung, gab Arturi, eine Zeitung für Gegenwartskunst, heraus, organisierte Seminare, Workshops und Vorträge. Für einen geringen Mitgliedsbeitrag stand MAF jedem offen (seit 2006 ist es als Institute of Optical Imaging in die Kunstakademie integriert). Eine Selbstinitiative, die wie alle folgenden in diesem Jahrtausend entstanden ist. So Tram - Transform Art Module Foundation, eine nonprofit Organisation, die sich als freie Plattform für Künstler versteht, zum einen - auch über den Webauftritt der Initiative - mit der Idee, dass diese sich selbst vernetzen, zum anderen kuratiert Tram aber auch Ausstellungen. Oder die Artisterium Association, die seit 2008 die mehrtägige Veranstaltung Tbilisi International Contemporary Art Exhibition and Art Events organisiert, eine international ausgerichtete non-profit Veranstaltung zwischen Werkschau und Messe, mit dem zentralen Ort in der Karvasla, flankiert von Ausstellungen, die quer durch die Stadt laufen. Ein derartiges Projekt findet dann auch die Hilfe des Kultusministeriums, das neuerdings auf seiner Webseite einen Überblick über eine Auswahl von aktuell in Georgien arbeitenden Künstlern gibt - sie zeitgenössisch zu nennen, wäre vermessen, da die große Mehrheit doch eine äusserst tradierte Kunstauffassung pflegt. Von internationaler Seite bieten Organisationen wie British Council, Institute Francais, Pro Helvetia oder das Goethe Institut regelmässig Unterstützung. Dank ihrer Arbeit können immer wieder internationale Gäste eingeladen oder der Druck von Plakaten, Einladungen und Katalogen querfinanziert werden.

Im Jahr 2007 starteten Sophia Tabatadze, Nadia Tsulukidze und Nini Palavandishvili von GeoAIR mit vier weiteren Künstlerinnen das Projekt Archidrome Contemporary Art Archive: eine Art von erweitertem Wohnzimmer, wo Künstler eingeladen werden, ihre Arbeiten zu zeigen, zur Diskussion zu stellen; wo Vorträge stattfinden, so etwas wie ein Künstlerstammtisch, ein selbstbestimmter akademischer Austausch; darüber versuchen sie auch ein Archiv der zeitgenössischen georgischen Kunst anzulegen. Selbstredend ist dies weitaus fortschrittlicher als das auf der Regierungs-Seite. GeoAIR wendet sich seit einigen Jahren mit einem Residency Programm speziell an Kuratoren und Kulturschaffende (nicht Künstler), die es nach Tbilisi holen möchte; ganz konkret auch mit dem Gedanken, dass die vor Ort im Kulturbetrieb beschäftigte von den ausländischen Kollegen lernen können. Die in Basel beheimatete Organisation iaab - Internationales Austausch- und Atelierprogramm Region Basel hat sich - neben rund einem Dutzend anderer Orte - auch den Künstleraustausch zwischen Basel/Solothurn/Südbaden und Tbilisi zur Aufgabe gemacht; zur Zeit ist das Programm zwar eingeschlafen, es soll aber wieder reaktiviert werden. Vielleicht wurde hier die Aufmerksamkeit des Schweizer Kurators Daniel Baumann geweckt: seit 2004 organisiert er einmal im Jahr eine nach Wochentagen durchnummerierte Ausstellung in Tbilisi - dazu gehören Filmvorführungen, Performances, artist talks. In den sorgfältig zusammengestellten Filmprogrammen präsentierte Baumann Positionen der klassischen Avantgarde wie Buñuel, Lye, Genet über Mekas, Wegman, Ono zu jüngeren Künstlerfilmen von Zittel oder Donelly, aber auch Buster Keaton oder den legendären, selbst in Tbilisi nie mehr gezeigten halbdokumentarischen Spielfilm Jim Shvante von 1929, über die in den georgischen Bergen lebenden Swanetier. Performances kamen von John Armleder, Georgi Kevle oder Ei Arakawa von Reena Spaulings. Daniel Baumann reist mit einem ganzen Tross junger internationaler Künstler an, es geht ihm dabei gerade auch darum, diese mit den Gegebenheiten vor Ort zu konfrontieren: ein Lehr- und Lernprozess in beide Richtungen, hier gibt es keinen abgesicherten künstlerischen Diskurs. Hier ist terrain vague.

Warum bleibt man hier, als Künstler? Weil es viel zu adressieren gibt. Weil es um etwas geht, es etwas zu tun gibt, man etwas aufbauen kann. Weil es hier Kollegialität gibt. Weil es bei Kunst nicht um Markt geht. Weil Georgien zwar die Visapflicht für Besucher aus Europa, USA oder Japan aufgehoben hat, das aber in die andere Richtung nicht gilt. Weil Heimat hier eine ganz andere Bedeutung hat, als in einem egalitären Westeuropa. Weil es aber auch Freiheiten gibt, die man anderswo nicht mehr findet. Weil das Essen schmeckt, und das Klima gut ist.

Was in Tbilisi am auffälligsten fehlt, ist ein ständiger Ausstellungsort, der eine Aufgabe erfüllt wie etwa ein Kunstverein: eine unabhängige, von Mitgliedern getragene Institution, die sich als Forum und Förderer zeitgenössischer Kunst versteht, vielleicht mit einer eigenen Sammlung. Diese Lücke will das CCA - Center of Contemporary Art Tbilisi schließen: ein Ort für Ausstellungen, Diskussionen aber auch Unterricht. Federführend hinter dem Projekt stehen unter anderem Wato Tsereteli, Khatuna Khabuliani und Giorgi Jorjoliani - keine Unbekannten in der Tbiliser Kunst- und Musikszene. Khabuliani und Tsereteli waren die Initiatoren von MAF - Media Art Farm; sie kuratierten unter anderem die Ausstellungsreihe Appendix; Tsereteli und Jorjoliani arbeiten in der Cumbogroup - und da auch mit Daniel Baumann. Den Werdegang ihres bisher spannendsten Projekts kann man online mitverfolgen.

Es wird noch etwas dauern, bis das CCA die Tore öffnet. Solange trifft man sich eben weiterhin an temporären Orten. Oder am Küchentisch. Da sind schon immer die revolutionärsten Ideen entstanden.

Andreas Reihse ist Musiker und freier Autor. Er lebt in Berlin.

 

Spike 24, Summer 2010

<<<